>Sinnieren im ICE – Achtung lang!

>Er schaut zum Fenster heraus während er seine mitgebrachte Stulle aus der ökologisch korrekten Papiertüte isst. Die eheberingte rechte Hand liegt aufgabenlos auf dem Tisch. Seine Kleidung ist schlicht aber dennoch nicht altmodisch, Business Look eben. Fast andächtig kaut er scheinbar jeden Bissen gemäß Vorschrift bis das Lyoner-Brot dünnflüssig wird und die Enzyme ihre Arbeit verrichten können. Zum Abschluss nimmt er noch drei Mini-Schlucke aus seiner 0,5 l Mineralwasserflasche. Für die Finger hat er ein Taschentuch parat und wischt sich diese damit sauber. Anschließend packt er das Notebook aus und beginnt zu arbeiten.

Ich bin fasziert.

Gleiche Szene. Nur mit mir als Protagonistin:

Wo zum Himmel ist mein Brötchen? Das hab ich doch in die Tasche… Aaahrg… Ach, hier ist es. Von ganz unten krame ich es aus den Tiefen meiner Handtasche hervor. Dabei hab ich es vorhin erst beim überteuerten Bäcker gekauft, wie kommt das Ding jetzt bitteschön nach ganz da unten?? Egal. Ich hab Hunger. Mhm.. Schön siehts ja nich mehr aus. Die Butter quetscht sich an den Seiten raus und natürlich haben die wieder keine Serviette mit rein getan.
Erster Bissen.
Na ja, nicht schlecht. Bisschen alt der Schinken. Wahrscheinlich noch von heute früh. Egal. Ich hab Hunger.
Zwischendurch putze ich mir mit den Fettfingern die kiloweise Bröseln vom Shirt die sich leider auch in die Ritzen meines Schals verirrt haben. Egal. Mach ich später wenn ich ganz fertig mit Essen bin. Mhm… Sieht aber schon blöd aus wenn man so verbröselt dasitzt, oder? Grmpf.
Ah, ich hab vergessen eine SMS zu schicken. Oh, aber mit Butter am Finger? Na ja, egal, mach ich nachher sauber. Sooo buttrig sind sie ja nun auch wieder nich die Fingers. Also getippt. Dauert ungefähr zehnmal länger als normal, mit einer Hand erwische ich immer die falschen Buchstaben. Tsss. Was solls. So, geschickt.

Der Kontrolleur kommt. Och Mensch, kann man nich mal in Ruhe essen? Wohin jetzt mit dem Brötchen? Auf den ekligen Nachbarsitz? Ne, da friemle ich lieber den Tisch vor mir runter. WO verdammt ist mein Ticket? Wegen dem blöden Schaffner muss ich jetzt mit meinen Butterfingern in die Tasche. Nur der is schuld. Ich habs. Es ist zweimal gefaltet und an einer Seite eingerissen. Durch die ganzen Reißverschlüsse in der Tasche. Kann ich ja nix für. Boah, nee, stimmt ja, die Bahncard will der auch noch. „Moment“ murmle ich mit brötchenvollem Mund und butter-kontaminiere auch noch meine Geldbörse. Na Bravo.
Brötchen vertilgt. Krümel auf den Nachbarsitz und Boden verteilt. Mitreisende heben die Augenbrauen. Sorry!? Wohin soll ich sonst mit dem Zeug??
Durst.
Stelle fest dass ich nur Leitungswasser dabei habe. Habe jetzt aber Lust auf etwas mit Geschmack. Also stiefele ich vor zum Bistro und erwerbe dort eine 0,5 Apfelschorle für stolze 3,00 Euro. Ich trinke sie in einem Zug leer. Ahhh. Das tat gut.
Zurück am Platz krame ich erneut in meiner Tasche und suche die feuchten Tücher um mir die Hände zu putzen. Bis mir einfällt dass ich die kürzlich alle gemacht habe, zum Brillenputzen (machen Sie das nicht, es schmiert unheimlich wegen der beinhalteten Pflegelotion). Ok, keine feuchten Tücher. Dann muss ich wohl oder übel auf die Bordtoilette. Allein beim Anfassen der Türklinke bekomme ich schon Herpes. Schnell Hände gewaschen und wieder raus aus dem Loch. Bah. Widerlich.
Erneute Rückkehr zum Platz.
So, jetzt kanns also losgehen.
Warum verdammt noch mal ist Butter auf meinem Lernskript??….
Usw.

Mich erstaunen solche Menschen wie o.g. Herr immer wieder. Ich  male mir dann aus wie er sich sein  Brot morgens beim Frühstück schmiert (oder das seine Frau für ihn tut) und wie er geistesgegenwärtig eine Wasserflasche einpackt. Er schlüpft in die einzigen Paar Schuhe die vor der Türe stehen, gibt seiner Frau einen Kuss und verschwindet in Richtung Arbeitstag.
Es wirkt auf mich so ordentlich, so clean, so durchdacht – jedoch ohne viel Aufwand – , so verinnerlicht, so ruhig. Ja, auch langweilig, aber trotzdem irgendwie gut.
Ich war noch nie so. Mein Leben war immer ein Chaos und so bin ich es meistens auch. Ich vergesse immer etwas mitznehmen. Geschweige denn denke ich daran früher aufzustehen nur um mir Brote zu schmieren. Mein Wohnraum ist immer leicht unordentlich. Obwohl ich mich wirklich anstrenge! Gut, ich habe bisher immer nur auf kleinstem Raum leben müssen, d.h. es ist nie genügend Platz da (zu meiner Verteidigung). Dennoch sehen auch andere Studentenzimmer oftmals besser aus als meins. Habe ich einfach zu viel Zeugs?
Es gibt ja Menschen die sortieren ihren Kleiderschrank nach Farben. In meinen Kleiderschrank muss einfach alles reinpassen, das reicht mir erst einmal.
Es gibt Frauen und Männer die sehen aus als hätten sie ihr Outfit jeden Tag durchdacht und als hätten sie nur EINEN Kugelschreiber in der Tasche. Ich durchdenke mein tägliches Outfit selten und habe mind. 3 Kugelschreiber in der Tasche. Und obwohl die Tasche voll ist, habe ich immer das nicht dabei was ich brauche. Kurzlich erst wieder: Nicht mal EIN Feuerzeug (als Raucher) aber: 10 Haargummis, Textmarker, zwei Sonnenbrillen, Ladekabel etc…
Ich habe ständig Haare an der Kleidung, vor allem am Rücken. Wie machen das die anderen Menschen? Verlieren die keine Haare?
An meiner Kleidung stimmt immer irgend etwas nicht. Sei es eine rutschende Strumpfhose, ein BH der kratzt, ein Rock der hochrutscht, einen kaputten Heel etc.

Irgendwie will ich auch so wie die anderen sein. Was ist deren Geheimnis? Oder hatte Einstein doch Recht?

12 Gedanken zu „>Sinnieren im ICE – Achtung lang!

  1. >Mach dir keine Gedanken, dass ist völlig normal (und dass ich mich ein bisschen darin wiedererkennen hat gar nie nichts mit meiner Sympathie zu tun ^^) – und ordentlich kann ja auch jeder – sagen zumindest die Chaoten *grins*

  2. >@Citara: Ne, das stürzt mich jetzt nicht in Depressionen. Sind nur manchmal solche Gedankengänge und Fragen die man sich stellt. Aber schön dass es nicht nur mir so geht… 🙂

  3. >Sehr schön *lach*Nein, es geht nicht nur Dir so. Da erkenne ich mich auch drin wieder.Auch die Bewunderung dafür, dass andere das total im Griff zu haben scheinen *grins*Aber letztlich ist ein bisschen Unordung doch ganz gut :-)Stell Dir den Mann mal im Bett vor. Da muss bestimmt auch alles streng nach Drehbuch laufen *grins*

  4. >Es ist der Charakter, da macht man nicht viel dran, allerdings kann man bestimmte Dinge kondtionieren, ich habe mir angewöhnt immer Wasser dabei zu haben, das hilft schon ungemein manchmal 😉

  5. >Die von dir beschriebenen Menschen (die mit einem Kugelschreiber und der Lyoner-Stulle) machen mir Angst.Die nach Aussen getragene Aufgeräumtheit lässt mich immer abgrundtiefe Geheimnisse Vermuten.

  6. >@ Der Glücksritter: Muss zugeben an die Bett-Situation habe ich auch kurz gedacht (wie er wohl mit seiner Frau schläft)und Du hast schon recht, das braucht man als Frau nich wirklich so was. :-S@Vanilla: Leitungswasser hatte ich ja dabei. Aber ich wollte mich damit nicht zufrieden geben, ich verwöhntes Gör. Mir hätte auch die eine Lyoner-Stulle nicht gereicht. 😉 @Frau Fabelhaft: Ach, watt schön. Willkommen im Club!@ Exhausted: Das stimmt auch!! Der hatte bestimmt Sex-Sklaven im Keller und seine Frau weiß nix davon… Zu geil…da kann man sich die tollsten Geschichten ausmalen.. 🙂

  7. >@Vanilla: Lyoner = Art von Fleischwurst, Stulle = norddeutsch für für Brot (auch Schnitte, Bemme, Scheibe)Ein Genie beherrscht sein Chaos! Das ist gut! Merken. 🙂

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